Folge mir!

Predigt zum 1. Sonntag nach Trinitatis von Pfarrer Roman Häfliger

11. Juni 2023

Matthäus 9,9-13

«Und als Jesus von dort weiterzog, sah er einen Mann, der Matthäus hiess, am Zoll sitzen. Und er sagt zu ihm: Folge mir! Und der stand auf und folgte ihm.

Und es geschah, als er im Haus bei Tisch sass, dass viele Zöllner und Sünder kamen und mit Jesus und seinen Jüngern bei Tisch sassen. Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?

Er hörte es und sprach: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Geht aber und lernt, was es heisst: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.»

Der Zöllner

Jesus sieht einen Mann am Zoll sitzen. Er sagt zu ihm: Folge mir! Und der steht auf und folgt ihm.

Versetzen wir uns für einen Moment in diesen Mann am Zoll. Matthäus wird er hier genannt; im Markus-Evangelium heisst er Levi. Er sitzt an einer Zollstation in Kafarnaum. Ich stelle mir vor, dass er Menschen in das Städtchen hinein- und aus dem Städtchen hinaus­gehen sieht. Wer hineinkommt, muss Markt- oder Grenzzoll­abgaben leisten. Hinausgehende werden meist grusslos an ihm vorbeigehen. Nun kommt aber einer aus der Stadt hinaus und spricht ihn direkt an: Folge mir!

Wie ist diesem Menschen am Zoll zumute, dass er aufsteht und ihm folgt?

Wir wissen, dass Zöllner zu dieser Zeit zwar gut verdienen, aber kein hohes Ansehen besitzen. Die Bezirks­zölle werden von den Römern für eine feste jährliche Summe verpachtet, wahrscheinlich an die Meistbieten­den. Die Pächter ihrerseits stellen wieder Unter­pächter an. Auch diese müssen einen festgelegten Betrag abliefern, kassieren jedoch den Zoll in die eigene Tasche. Die Tarife sind nicht streng festgelegt. Auch da, wo es feste Tarife gibt, halten sich die Zolleinnehmer in der Regel nicht daran, sondern versuchen einen möglichst hohen Profit für sich zu erwirtschaften.

Durch seinen Beruf kommt der Zöllner mit Heiden in Kontakt, so dass er in der heimischen Gesellschaft als unrein gilt.

Wie lange hat Matthäus diesen Job gemacht? Wie viele Stunden hat er gelangweilt am Zoll gesessen? Wieviele Ausreden, Entschuldigungen und Beleidigungen hat er sich anhören müssen? Mit wem hat er seinen Feierabend verbracht?

Vielleicht überlegt sich Matthäus schon lange, warum er eigentlich am Zoll sitzt. Ob er sich fürs nächste Jahr wieder um den Posten bewerben soll. Ob das Leben nicht noch etwas anderes zu bieten hat als dass er tagaus, tagein das Stadttor kontrolliere. Andererseits bietet diese Stelle ein gutes und sicheres Einkommen.

Seinen sozialen Status hat er sowieso schon verwirkt: Ein Sünder, der umkehren will, muss für alles Unrecht, das er begangen hat, Wieder­gutmachung leisten. Ein Zöllner kann nach gängiger Meinung gar nicht Busse tun, weil er ja gar nicht mehr weiss, wieviele Menschen er betrogen hat. – Warum also etwas ändern?

Und nun kommt einer und fordert ihn hinaus: Folge mir! – Ja, warum nicht? Da will einer etwas von mir. Da spricht mich jemand direkt an. Die Aufforderung wirkt einladend.

Am Zoll kommen viele Menschen vorbei, da wird geredet und geschwatzt, wir können davon ausgehen, dass Matthäus weiss, wer ihn ruft. Ein Wanderprediger, der soeben einen Gelähm­ten geheilt und sich mit den Schriftgelehrten angelegt hat. Vielleicht kennt er ihn auch noch von früher (vgl. 9,1). Jedenfalls zögert er nicht lange, sondern steht auf und folgt ihm.
 

Der Rufer

Und der, der ihn ruft? Der hat soeben einem Gelähmten die Sünden vergeben, ihn geheilt und sich mit den Schriftgelehrten gezankt. Denn die religiös-sozialen Regeln dieser Zeit sind streng: Die Sünde trennt den Menschen von Gott; sie ist auch der Grund von Krankheit. Mit Menschen, die von Gott getrennt sind, sollen andere Menschen nicht verkehren. Darüber setzt sich Jesus hinweg.

Jedoch braucht, wer gerne erzählt, Zuhörende; wer als Beispiel vorangehen will, braucht Nachfolger. Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken, wird sich Jesus später erklären. Auch mit diesem Bild setzt er sich über gesellschaftliche Normen hinweg: Ärzte sind ebenfalls suspekt, weil oft unrein.

Die kurze Geschichte zeigt also zwei Gewinner. Jesus zählt einen Mitstreiter mehr, Matthäus bricht auf in ein neues Leben. Dieser doppelte Gewinn wird mit einem Essen im Haus gefeiert.

Die anderen

So könnte die Geschichte enden. Aber auch hier kommen noch die anderen zu Wort. Im Abschnitt zuvor sind es die Schriftgelehrten, nun die Pharisäer. Es könnten auch die Nachbarn sein oder zufällig Vorbeigehende: Wenn jemand sich über gesellschaftliche Regeln hinwegsetzt, geht es meist nicht lange, bis andere sich daran stören und ihrem Missmut darüber Ausdruck verleihen. Das ist in den Strassen Kafarnaums von damals nicht anders als heute in Burgdorf, in Leserbriefen oder in Facebook-Kommentaren.

«Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?» Wer diese Frage stellt, rechnet sich selbst natürlich nicht zu diesen Gruppen. Sondern zu dem Teil der Gesellschaft, der über diesen Gruppen steht. Zu denen, die es richtig machen.

Wer sich zu denen zählt, die alles richtig machen, rühmt sich selbst. Zu dieser Frage hat Jeremia einen Spruch Gottes überliefert, wir haben ihn als Lesung gehört: Wer sich rühmen will, rühme sich weder seiner Weisheit, seiner Stärke noch seines Reichtums. Der einzige Grund, sich zu rühmen, ist, Gott zu erkennen: «dass ich, Gott, es bin, der Gnade, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden, denn daran habe ich Gefallen.» Der einzige Grund, sich zu rühmen, ist, Gott nicht nur zu erkennen, sondern zu anerkennen, dass Gott (allein) Gnade, Recht und Gerechtigkeit übt. Anders gesagt: Wir dürfen und sollen das Urteil über andere Gott überlassen.

In dieselbe Richtung zielt auch Jesu Antwort auf die Vorwürfe der Pharisäer: «Lernt, was es heisst: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.» Mit dem Zitat aus dem Hosea-Buch belegt er, dass sich ein Mensch vor allem durch angebrachtes Verhalten als gottgefällig erweist, und nicht in erster Linie durch das Befolgen religiöser Regeln.

Und wir?

Vielleicht sind wir auch schon mal in eine ähnliche Geschichte hineingeraten.

Zum Beispiel als Zöllner. Wie müsste ein Ruf klingen, damit Sie ihm folgen würden? Welche Vorstellungen würden Sie dazu bringen, Ihr Leben – oder realistischer: einen Teil Ihres Lebens – zu überdenken? Welche Annehmlichkeiten wären Sie bereit aufzugeben?

Oder vielleicht als Rufer oder Ruferin. Könnten Sie einem anderen Menschen sagen: Folge mir! Oder: Komm mit! – Zum Beispiel an einen Seniorennachmittag, zu einem Mittagessen, an einen Gottesdienst? Würde es eine Rolle spielen, ob dieser andere Mensch dasselbe Alter hat, ob er dieselbe Sprache spricht oder sich im selben Stil kleidet?

Oder, wer weiss, vielleicht auch schon mal als eine oder einer der anderen, die sich daran stören, dass sich jemand über Gepflogenheiten und Regeln hinwegsetzt. Die sich darüber empören, dass jemand seine Zuwendung den Falschen zukommen lässt. Die meinen, sich dafür einsetzen zu müssen, dass die Gesellschaft nicht vor die Hunde geht.

Wie auch immer. Unserer Gesellschaft bekämen etwas matthäi­sche Spontaneität und etwas jesuanische Aufmunterung gut. Und ein gewisser Grossmut all jener, die eine so schöne Geschichte miterleben dürfen, und deren Meinung gar nicht gefragt ist.

So werde ich die Geschichte als die in Erinnerung behalten, in der Jesus das Leben eines Mit­menschen positiv verändert, und damit gleichzeitig sich selbst beschenkt.