Freiheit und Recht

Predigtreihe «Freiheit», Predigt zu Jesaja 42,1-4 von Pfarrer Roman Häfliger

Unsere Stadt begeht in diesem Jahr das 750-Jahr-Jubiläum ihres Freiheitsbriefes. Das Jubiläum der Handfeste: einer Urkunde auf drei Seiten Pergament, deren erste Zeile abwechselnd in schwarzen und roten Majuskeln die Anrufung des dreieinigen Gottes birgt, unter dessen Schutz sie stehen will.

Die Handfeste vom September 1273 ist ein Rechtstext: Sie regelte das tägliche Haus- und Geschäftsleben der Bürgerinnen und Bürger. Die Artikel beschäftigen sich mit Familien- und Erbrecht, mit Markt- und Zollrecht, mit Friedenswahrung und Strafrecht. Von da an konnten sich Burgdorfs Bürger*innen darauf berufen. Sehr wichtig und wahrscheinlich neu war das Recht zur freien Verfügung über den Grundbesitz in der Stadt. Bürger*innen konnten nun kaufen und verkaufen, sie konnten etwas erwerben und vererben.

Entstanden ist die Handfeste im hohen Mittelalter, in einer Zeit des Aufbruchs in Europa, in einer Zeit des Bevölkerungswachstums und der Migration. Die Bedeutung von Produktion, Markt und Wirtschaft nahm zu, die Obrigkeit sah sich zu Zugeständnissen genötigt. Die damals zugestandenen Freiheiten der Bürgerschaft haben sich in den vergangenen 750 Jahren erhalten und glücklicherweise vermehrt.

Das hat zur Folge, dass in unseren diesjährigen Feierlichkeiten die historisch-akademischen Zugänge dominieren: Das Originaldokument wird ausgestellt, es werden Vorträge und Führungen organisiert, es gibt einen Markt nach alter Art und bald eine Ausstellung über das pompöse 700-Jahr-Jubiläum. Man könnte es traurig finden, dass über 750 Jahre Freiheit nicht mehr Festgefühl aufkommen. Beim letzten Jubiläum vor 50 Jahren herrschte noch ein anderes Gefühl vor.

Andererseits: Was haben wir für ein Glück, dass wir uns heute (nur) theoretisch-historisch mit der Handfeste beschäftigen müssen! Die Freiheiten von damals waren nicht dieselben wie die von heute, das zeigen auch die vom Gymnasium gestalteten Plakate, die seit einigen Wochen unsere Strassen zieren.

Die darin beschriebenen Regeln und Gesetze wurden ab Dokumentunterzeichnung von beiden Seiten – Bevölkerung und Obrigkeit – eingehalten, sie haben sich weiterentwickelt und diversifiziert. So gesehen ist es ein Luxus, dass wir heute Historiker*innen brauchen, die uns den Zusammenhang zwischen diesen drei Pergamentseiten und der «Freiheit» erläutern.

In diesem Beitrag stelle ich der 750-jährigen Handfeste ein noch älteres Lied zur Seite: Das erste der sog. «Gottesknechtliedern». Es wird in Jes 42,1-4 überliefert. Seinen Ursprung hat es wahrscheinlich in der Zeit des ausgehenden Exils, um 520 vor Christus: Jahrzehnte vorher hatten die Babylonier Israel und Juda besiegt und den einfluss­reichen Teil der Gesellschaft ins Exil geschickt. Mehr als zwei Generationen später schwankte die Stimmung unter den immer noch Exilierten bzw. ihren Nachkommen zwischen Resignation und hoffnungsvollem Gottvertrauen. Die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die alte Heimat wurde durch die Weltpolitik bestärkt, weil das Perserreich die babylonische Herrschaft bedrängte.

In diese Hoffnung hinein hat ein Prophet dieses Lied gesungen. Ich lese aus Jesaja 42:
1Seht meinen Diener, ich halte ihn,
meinen Erwählten, an ihm habe ich Gefallen.
Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt,
das Recht trägt er hinaus zu den Nationen.
2Er schreit nicht und wird nicht laut
und lässt seine Stimme nicht hören auf der Gasse.
3Das geknickte Rohr zerbricht er nicht,
und den verglimmenden Docht löscht er nicht aus,
treu trägt er das Recht hinaus.
4Er erlischt nicht
und wird nicht geknickt,
bis er das Recht in Kraft gesetzt hat auf der Erde;
auf seine Weisung warten die Inseln.

Dieses Lied ist nicht nur in einer anderen Zeit, sondern vor allem in einer anderen Situation entstanden als die Burgdorfer Handfeste. Die, die es gesungen haben, warteten in der Ferne darauf, dereinst wieder in die Heimat ihrer Vorfahren zurückkehren zu können. Als Nach­kommen von Verschleppten aus einem besiegten Volk hatten sie im babylonischen Reich keine grossen Rechte. Nicht einmal ein Prophet wagte dort und damals von Freiheiten zu träumen, wie sie Jahrhunderte später der Bevölkerung von Burgdorf zuteilwerden sollten.

Aber: Schon dort und damals haben sie vom Gleichen geträumt! Von Freiheit. Von der Freiheit, im eigenen Land nach dem eigenen Recht leben zu können.

Wer genau der besungene «Diener» ist, ist nicht geklärt. Es könnte ein Prophet gewesen sein, der in der Exil-Gemeinde wirkte, und dessen Texte im zweiten Teil des Jesaja-Buchs auf­ge­schrieben wurden. Das Lied wurde auch auf das ganze Volk Israel gelesen, was den Vertriebenen immerhin einen Grund für ihre Vertreibung geben würde. Diese Frage treibt Bibelforschende seit Langem um; heute klären wir sie nicht.

Das Lied wurde damals und wird bis heute gesungen, weil es die Hoffnung auf Freiheit und Recht aufrechterhält. Es gibt denen, die es singen, die Hoffnung, dass sich das Recht irgend­wann durchsetzen wird. Der Diener Gottes wird nicht laut und schreit nicht – das wäre bei den babylonischen Herrschern nicht gut angekommen. Das bedeutet gleichzeitig auch: Dieses Recht muss sich nicht mit Gewalt durchsetzen. Statt ein bereits geknicktes Rohr zu zerbrechen oder einen verglimmenden Docht auszulöschen, trägt der Diener Gottes das Recht hinaus. Weil er mit Geknicktem und Verglimmenden so sanft umgeht, erlischt auch er selbst nicht, bis er das Recht in Kraft gesetzt hat auf der Erde.

Ganze dreimal wird das «Recht» in diesem kurzen Lied genannt. Gemeint ist damit nicht königliches oder anderes irdisches Recht, sondern das göttliche, da das Lied ja von Gott in Ich-Form gesungen wird. Egal, was Könige oder andere Herrscher beschliessen, es gibt da einen Diener Gottes, von Gott gehalten und mit Gottes Geist beschenkt, der das Recht hinaus zu den Nationen tragen wird!

Die Hoffnung, die dieses Lied ausdrückt, hat später auch anderen Unterdrückten Mut gemacht. So wurde es zum Beispiel von der südamerikanischen Befreiungstheologie aufgenommen.

Was in diesem Lied herbeigesehnt und in der Burgdorfer Handfeste beschrieben wird, zeigt deutlich: Freiheit gründet in Recht. Oder andersrum: Ohne Recht und Regeln gibt es keine Freiheit. In unserer freiheitsliebenden und individualisierten Gesellschaft geht das manchmal vergessen. In der Schweiz haben wir uns seit so vielen Jahrhunderten an die staatliche Freiheit gewöhnt, dass wir unser Wohlergehen häufig eher an individuellen denn an gesellschaftlichen Freiheiten messen, sei es bei der Arbeit oder in den Ferien. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, ich freue mich selbst sehr darüber. – Seien wir dankbar für all die Rechte und Regeln, die uns diese Freiheit ermöglichen!

Das 750-Jahr-Jubiläum der Handfeste und dieses Lied mögen uns daran erinnern, Freiheit auch über das Individuum hinauszudenken. Nach Freiheit und Recht, wie im Lied und in der Handfeste beschrieben, sehnen sich Nationen und Inseln noch immer, denken wir beispielsweise an Afghanistan, Eritrea, Syrien oder die Ukraine. Und auch unter uns gibt es Menschen, die sich nach mehr Freiheit sehnen. Je nach Aufenthaltsstatus ist die individuelle Freiheit auch hierzulande stark eingeschränkt.

Vergessen wir also neben dem Genuss indivi­dueller Freiheiten nicht, uns den Bemühungen des Dieners Gottes anzuschliessen: das Recht hinaus zu den Nationen zu tragen. Nicht laut, sondern behutsam und beständig. Zum Beispiel singend: Dein Reich komme, Herr, dein Reich in Klarheit und Frieden, Leben in Wahrheit und Recht – lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn!