Vom Umgang in der Gemeinde

Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis von Pfarrer Roman Häfliger

3. September 2023

Der Predigttext stammt aus dem Brief von Paulus an die Gemeinde in Rom. In diesem Brief werden viele grosse theologische Themen verhandelt und in einen systematischen Zusammenhang gebracht. Damit ist Paulus als der grosse Lehrer der Theologie in die Geschichte der Kirche eingegangen. Er schreibt in Kapitel 12,9-16 über das Leben in der christlichen Gemeinde:

Die Liebe sei ohne Heuchelei! Das Böse wollen wir verabscheuen, dem Guten hangen wir an. In geschwisterlicher Liebe sind wir einander zugetan, in gegenseitiger Achtung kommen wir einander zuvor. In der Hingabe zögern wir nicht, im Geist brennen wir, dem Herrn dienen wir. In der Hoffnung freuen wir uns, in der Bedrängnis üben wir Geduld, am Gebet halten wir fest. Um die Nöte der Heiligen kümmern wir uns, von der Gastfreundschaft lassen wir nicht ab. Segnet, die euch verfolgen, segnet sie und verflucht sie nicht! Freuen wollen wir uns mit den Fröhlichen und weinen mit den Weinenden. Seid allen gegenüber gleich gesinnt; richtet euren Sinn nicht auf Hohes, seid vielmehr den Geringen zugetan. Haltet euch nicht selbst für klug!


Da kommt einiges zusammen an Aufforderungen und Selbstaufforderungen. Ob dieser Fülle von Mahnungen könnte einem Angst und bange werden! Das wäre gar nicht im Sinne des Verfassers. Deshalb ein paar Worte zur Entstehung dieser Verse.

Gemeinde in Rom

Paulus hat den Römerbrief wohl in den Jahren 56-57 in Korinth geschrieben, bzw. wie zu seiner Zeit üblich, einem Schreiber diktiert (16,22). In den Jahren vorher war Paulus viel gereist und hatte in verschiedenen Städten christliche Gemeinden gegründet. Die Gemeinde in Rom wurde nicht von ihm begründet, er hatte sie auch noch nie besucht. Er kennt die Gemeinde also nicht. Aber er möchte in der Stadt des Kaisers eine Ausgangsbasis für die von ihm geplante Mission in der westlichen Mittelmeerwelt schaffen (15,22-24). Dieser Brief ist also ein Empfehlungs­schreiben für seine Anliegen und seinen Glauben. Gleichzeitig soll das Schreiben die Gemeinde auf seine Erwartungen vorbereiten.

Die angeschriebene «Gemeinde in Rom» ist nicht direkt mit unserer «Reformierten Kirche Burgdorf» vergleichbar. Bis das Christentum von Kaiser Konstantin anerkannt würde, sollte es noch ganze 250 Jahre dauern. Bis dahin, und besonders in der Zeit des Paulus, war eine christliche Gemeinde ein Zusammenschluss von gläubigen Menschen, die sich oft im Versteckten zum Beten und gemeinsamen Abendmahl-Feiern trafen. Damals brauchte es Mut, sich zum Christentum zu bekennen. Christen und Christinnen waren eine gesellschaftliche Minderheit und pflegten innigen Austausch untereinander, «in geschwisterlicher Liebe einander zugetan». Die «Bedrängnis», in der sie Geduld übten, war Alltag: Viele von ihnen wurden an der Ausübung ihrer Religion gehindert oder gar wegen ihrer Religion verfolgt.

Gemeinde in Burgdorf

Was für ein gänzlich anderes Gefüge ist doch unsere hiesige, heutige «Gemeinde»! Sie zählt 7749 Mitglieder (Stand: Juni 2023) in einer Stadt mit knapp 16'000 Einwohner*innen. Einige Mitglieder pflegen engen Kontakt zu anderen Mitgliedern. Einige Mitglieder hätten gerne engeren Kontakt zu anderen. Und einige Mitglieder sind ganz froh, zu einer Kirchgemeinde zu gehören, die da ist, wenn man sie braucht, ohne von ihnen geschwisterliche Liebe zu anderen zu fordern. Einige Mitglieder übernehmen unbezahlte oder bezahlte Aufgaben in der Gemeinde. So wird, wie in unseren Gegenden üblich, etwa der Dienst des Katecheten oder der Pfarrerin finanziell entlöhnt. Andere Dienste wie die des Geburtstagsbesuchers oder der Kirchgemeinderätin werden auch in unserer Gemeinde ohne Arbeitsvertrag versehen.

Unsere Kirche hat sich seit den Gemeinden, die zur Zeit des Paulus gegründet worden sind, stetig weiterentwickelt. Dabei ist Vieles besser geworden, anderes nicht unbedingt.

Zusage und Anspruch

Wie hätte Paulus seine Zeilen formuliert, wenn er unsere Gemeinde im Blick gehabt hätte? – Zuerst: Wie hat Paulus seine Zeilen damals formuliert? Auf Deutsch lese ich diese Verse als Selbstaufforderungen: «wir wollen». Wenn es heisst «in der Bedrängnis üben wir Geduld», verstehe ich das, obwohl grammatikalisch ein Indikativ, nicht nur als Feststellung, sondern auch als Aufforderung.

Auch die griechische Originalversion ist nicht eindeutig. In diesen acht Versen stehen gerade mal vier konjugierte Verben! Alle anderen Handlungen werden mit Infinitiven und Partizipien ausgedrückt. Wörtlich übersetzt heisst das dann also «sich freuen mit den sich Freuenden», oder «im Geist brennend». Diese Formen sind nicht einfach grammatikalisch interessant, sondern verweisen auf die Grundstruktur der paulinischen Ethik: Berufung und Lebensführung der Christen und Christinnen sind eng verbunden. Die Gabe des Heils in Christus wird zugleich als Anspruch an die Glaubenden formuliert (vgl. Galater 5,25). Sie ist Zusage und Forderung gleichzeitig. Mit diesen speziellen Verbformen bekommt der Text einen schwebenden Charakter.

Mit dem Zuspruch will Paulus die römische Gemeinde ermuntern. Echte Liebe. Das Böse verabscheuend, dem Guten anhängend. Bruderliebe und gegenseitige Achtung. Im Geist brennend, dem Herrn dienend. Fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. Die Nöte der Heiligen annehmend, Gastfreundschaft übend.

Und dann kommen doch noch, unvermittelt, direkte Befehle: «Segnet, die euch verfolgen, segnet sie und verflucht sie nicht!» Drei der vier konjugierten Verben in diesem Text beschreiben dasselbe! Segnet die, die euch verfolgen. Während wir uns das im übertragenen Sinne ausmalen dürfen, sind die Briefempfänger z.T. im wörtlichen Sinn verfolgt worden. Paulus greift hier zurück auf alte jüdische Überlieferung, wir haben sie im Lesungstext gehört: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das heisst: gerecht richten, den Bruder nicht hassen, nicht Rache üben, Fremde lieben. Sprachlich verlässt Paulus hier den indirekten Stil, nun wird es konkret. Da bleibt kein Interpretationsspielraum.

Weiter geht es mit Ermunterungen: Sich mit den Sich-Freuenden freuen. Mit den Weinenden weinen. Untereinander eines Sinnes sein, nicht hoch hinaus strebend, demütig bleibend. Und dann, zum Abschluss, noch einmal ein konkreter Befehl: «Haltet euch nicht selbst für klug!» Ihr macht niemandem einen Gefallen, wenn ihr meint, die Klugheit mit Löffeln gegessen zu haben. Euch nicht und euren Mitmenschen nicht.

Aufforderung als Gabe

Wie hätte Paulus seine Zeilen formuliert, wenn er unsere Gemeinde im Blick gehabt hätte?

Ich stelle mir vor, dass er einiges gleich formuliert hätte. Anders gesagt: dass seine Sätze auch uns gelten. Mit seinem Zuspruch möchte er auch uns ermuntern! Er würde sich freuen, dass bei uns niemand verfolgt wird, des Glaubens oder anderer Dinge wegen. Er müsste sich also überlegen, wen zu segnen er uns beauftragen würde. «Segnet, die anderen Glaubens sind!», vielleicht, oder: «Segnet, die aus der Kirche austreten!»

Von Anfang an mussten sich christliche Gemeinden als Teil einer multireligiösen Umwelt definieren. Während es die ersten Gemeinden nicht anders kannten und es für sie also «normal» war, müssen wir uns zuerst wieder daran gewöhnen. Jahrhundertelang war unsere Kirche die Mehrheitsreligion. Das hatte viele Vorteile. Anderes hat aber auch darunter gelitten.

Seit einigen Jahren müssen wir akzeptieren, dass unsere Kirche kleiner wird: in der Schweiz und in Burgdorf. Es gibt monatlich Kirchenaustritte; politisch ist es opportun, kirchliche Privilegien zu kürzen; Eltern schicken ihre Kinder lieber in Förderkurse als in die kirchliche Unterweisung.

In diesem Umbruch tun wir gut daran, die Mahnungen aus dem Römerbrief auch auf uns zu interpretieren: Richtet euren Sinn nicht auf Hohes, seid vielmehr den Geringen zugetan. Kommt einander in gegenseitiger Achtung zuvor. Übt Geduld in der Bedrängnis. Haltet die Gastfreundschaft aufrecht. Heuchelt keine Liebe. Haltet am Gebet fest.

In diesem Anspruch schwingt immer auch die Zusage mit. Nehmen wir die Aufforderung also als Gabe an! Das ist kein einfaches Unterfangen, gibt uns aber eine Perspektive.

«Ihr sollt heilig sein, denn ich, euer Gott, bin heilig.» (Leviticus 19,2)