Ein Wunder in der Wüste

Gedanken zu Numeri 20,1-13 von Pfr. Roman Häfliger, 10. März 2024

Haben Sie manchmal auch das Gefühl, dass früher alles besser war? Früher waren die Kinder noch anständig, man durfte rauchen in der Beiz und sonntags mit gutem Gewissen einen Braten geniessen. Besonders in Krisensituationen erinnern wir uns gerne an die guten alten Zeiten.

In der Geschichte aus dem Buch Numeri, im heutigen Predigttext, befindet sich das Volk Israel in einer Krise. Die Flucht aus Ägypten durch das Schilfmeer liegt bereits Jahrzehnte zurück, der Empfang der göttlichen Gebote am Berg Sinai ebenfalls, und immer noch ist man unterwegs in das versprochene gelobte Land. (Der Begriff «gelobtes Land» verlangt heute nach einer Anmerkung. Ich erlaube mir, den Fokus auf die Erzählung aus dem 4. Buch Mose zu legen und auf Verweise zu aktuel­len Gegebenheiten in diesen Welt­gegenden, trotz der grossen Bestürzung über die dort seit Monaten wieder aufgekommene Gewalt, zu verzichten.) Die Krise in der Geschichte also spielt mitten in der Wüste, die nun schon seit Jahrzehnten das Zuhause Israels ist: Vierzig Jahre müssen sie durch die Wüste ziehen, bevor ihre Nachkommen dann ins gelobte Land gelangen werden, so die entmutigende Antwort Gottes auf ein früheres Aufbegehren des Volkes einige Kapitel vorher (Num 14).

Im ersten Monat des Jahres kam die ganze Gemeinde der Israeliten in die Wüste Zin. Das Volk blieb eine Weile in Kadesch. Dort starb Mirjam und wurde auch dort begraben.


Kadesch ist eine Oase mitten in der Wüste: Gaza am Mittelmeer liegt etwa 100km nördlich, das Tote Meer gleich weit östlich und der Golf von Akaba noch etwas weiter südlich. Die fruchtbare Gegend um den Nil, der einstige Ausgangspunkt der Flucht, liegt sogar mehr als 300km westlich davon entfernt.

In dieser Oase stirbt Mirjam, die Schwester von Mose und Aaron. In der Geschichte geht es jedoch nicht um die Trauer um sie, sondern darum, dass den Israeliten das Wasser ausgeht!

Es gab kein Wasser für das Volk, darum lehnte es sich gegen Mose und Aaron auf. Die Gemeinde begann mit Mose zu streiten: »Wenn wir doch umgekommen wären, als unsere Brüder vor Gott ums Leben kamen! Warum hast du die Gemeinde Gottes in diese Wüste geführt? Sollen wir und unser Vieh etwa hier sterben? Wozu hast du uns aus Ägypten herausgeführt, wenn du uns an einen so üblen Ort bringst? Hier kann man nichts anbauen, keine Feigen, keine Trauben und keine Granatäpfel! Es gibt nicht einmal Wasser zu trinken!«


Stellen Sie sich die aufgebrachte Menschen­menge vor! Unzufriedene Menschen in Massen können ungewahnte Kräfte entwickeln. Nun kommt in mir doch ein aktuelles Bild aus dem Gazastreifen auf, als sich vor einigen Tagen eine Tragödie ausgerechnet um Lastwagen mit Hilfsgütern herum ereignete. Oder ein anderes Bild, aus dem winterlichen Moskau, wo Putin aus Angst vor ebensolchen Kräften bei Nawalnys Begräbnis mit Eisengittern und riesiger Polizeipräsenz vorsorgte.

Die aufgebrachten Menschen in dieser Geschichte erinnern sich an die guten alten Zeiten, an Granatäpfel, Feigen und Wein. In der Wüste verblassen die schlimmen Erinnerungen, niemand redet mehr von Sklaverei und Unter­drückung durch fremde Herren. Die Verdräng­ung ist vielleicht ein menschlicher Überlebens­instinkt. Aus ein paar Jahren Distanz erscheint das vergangene Leid plötzlich weniger düster. Was drängt und zusetzt, ist die Gegenwart, und die ist heiss, sandig und trocken.

Mose und Aaron wichen vor der Gemeinde bis zum Zelt der Begegnung zurück. An seinem Eingang warfen sie sich zu Boden. Da erschien ihnen Gottes Herrlichkeit, und Gott sagte zu Mose: »Nimm deinen Stab! Dann sollst du zusammen mit deinem Bruder Aaron die Gemeinde versammeln. Vor ihren Augen sollt ihr mit diesem Felsen reden, dann wird er Wasser hervorbringen. So wirst du Wasser aus ihm fließen lassen, damit die Gemeinde und das Vieh zu trinken haben.«


Die Trauer um ihre verstorbene Schwester ist bei Mose und Aaron sicher noch präsenter als bei ihren Mitmenschen. Aber nun sind sie in ihrer Rolle als Anführer gefragt. Und da kann ich ihre Reaktion gut verstehen. Erst einmal zurück­weichen bis zum Zelt der Begeg­nung, dem mobilen Tempel, um es mal so zu sagen: Auch wenn die Menge den Respekt vor ihren Anführern zu verlieren scheint, wird sie ihn hoffentlich noch vor dem Heiligtum bewahren. Der Plan scheint aufzugehen. In der Erzählung gibt es einen Szenenwechsel: Keine bedrohen­den Mengen mehr, sondern Ruhe – und Gottes Herrlichkeit. Ohne grosse Einleitungen gibt Gott Mose die nächsten Anweisungen. Manchmal wünschte ich mir das: einen Gott, der mir genau sagt, was als nächstes zu tun ist. Andererseits… haben Sie sie genau verstanden? Was soll Mose nun tun? «Nimm deinen Stab», so beginnt die Aufforderung. Den Stab, der bei der letzten Rebellion plötzlich zu blühen begann und Mandeln reifen liess, der Stab, der als Zeichen dienen soll, der seither bei den Tafeln mit den Geboten aufbewahrt wird (Numeri 17,16-28).

Mose holte seinen Stab aus dem Zelt der Begegnung, wie Gott es ihm befohlen hatte. Gemeinsam mit Aaron rief er die Versammlung bei dem Felsen zusammen und sagte: »Streitsüchtig seid ihr! Hört zu! Haltet ihr es für möglich, dass wir Wasser für euch aus diesem Felsen fließen lassen?« Dann hob Mose seine Hand. Er schlug zwei Mal mit seinem Stab gegen den Felsen. Sofort floss so viel Wasser heraus, dass die Gemeinde und ihr Vieh davon trinken konnten.


Ein Wunder! Mitten in der Wüste fliesst plötzlich Wasser aus einem Felsen. Mose nutzt den Stab wie einen Zauberstab, und schon verschwin­den Durst und Zorn, Aufregung und verfälschte Erinnerungen. Mensch und Vieh stillen ihren Durst mitten in der Wüste, Gott hat sie gerettet, ihr Weiterleben gesichert.

So könnte die Geschichte aufhören.

Aber es wäre etwas zu einfach. Wie wenn Jesus nach den vierzig Tagen in der Wüste dem Vorschlag des Versuchers gefolgt wäre und aus Steinen Brot gezaubert hätte (Matthäus 4). Auch diese Geschichte wäre gleich zu Ende gewesen.

Nein, die Geschichte ist hier nicht zu Ende!  

Gott aber sagte zu Mose und Aaron: »Ihr habt nicht an mich geglaubt. Ihr habt den Israeliten nicht vor Augen geführt, dass ich heilig bin! Deswegen dürft ihr diese Versammlung nicht in das Land führen, das ich ihnen geben werde.«


Ein hartes Urteil! Un doch – obwohl Gott selbst mit Mose gesprochen hat, kann ich nachvollziehen, dass dieser bei den Anweisungen im Zelt der Begegnung nicht ganz genau zuhörte. Einerseits hatte er sich schutz­suchend ins Zelt gestürzt und war vielleicht nur bedingt aufnahmefähig, andererseits dürfte er sich bei Gottes Auftrag gleich an eine ähnliche Situation erinnert haben, die sich einige Jahre zuvor zugetragen hatte. Im Buch Exodus wird eine auffällig ähnliche Geschichte überliefert. Damals lautete Gottes Befehl an Mose: «Nimm auch deinen Stab in die Hand, mit dem du auf den Nil geschlagen hast. … Schlage an den Felsen! Es wird Wasser herausfliessen, und das Volk kann trinken.» (Exodus 17,5f)

Diesmal aber soll Mose nicht auf den Felsen schlagen, sondern mit diesem Felsen reden! Wegen dieses Versehens soll nun Mose und Aaron verwehrt bleiben, das Volk ins versprochene Land zu führen?! Das scheint mir eine etwas gar grosse Strafe zu sein. Es gibt unterschiedliche Auslegungen zu dieser Stelle. So meinen einige, dass es für Mose und Aaron gar keine Strafe sei, das gelobte Land nicht betreten zu können, sondern eine Erlösung: weil die Erwartungen nach jahrzehntelangem Suchen sowieso nur enttäuscht würden.

Wahrscheinlich geht es bei Moses Vergehen nicht darum, ob und wie er den Stab eingesetzt hat. Sondern um die Worte, die er dabei benutzt hat: «Haltet ihr es für möglich, dass wir Wasser für euch aus diesem Felsen fliessen lassen?» Das «wir für euch» ist das Problem! Bei diesem PS der Geschichte geht es um die Selbst­überschätzung, die uns Menschen eigen ist; vielen jedenfalls, nicht einmal Mose war davor gefeit.

Mose ist nicht allein mit dieser Haltung, unter aufgeklärten Menschen unseres Zeitalters ist sie noch weiter verbreitet als wohl unter seinen Zeitgenossen. So sagte die für Religionsgemein­schaften zuständige Berner Regierungsrätin unlängst in einem Interview: «Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich an eine höhere Macht wenden. … In meiner täglichen Arbeit bin ich zum Glück auch nicht auf höhere Mächte angewiesen – vielmehr auf kompetente Mitarbeitende.» (Der Bund vom 4. März 2024)

Diese Geschichte will uns zweierlei lehren: Erstens können unerwartet Wunder geschehen. Zweitens empfiehlt es sich, nicht persönlich Profit aus solch unerwartet wunderbaren Momenten schlagen zu wollen. Dann kann eine Krisensituation sogar versöhnlich enden:

Von da an hieß die Quelle »Wasser von Meriba«, das heißt: Streitwasser. Denn hier hatten die Israeliten Streit mit Gott. Hier erwies sich Gott für sie als heilig.


Ja, es ist erlaubt, mit Gott zu streiten. Die Geschichten von Israels Wanderung durch die Wüste zeigen es immer wieder. Gott lässt sich auf den Streit ein und antwortet. In diesem Fall gar versöhnlich und lebenerhaltend: Das dürstende Volk und Vieh bekommt mitten in der Wüste Wasser und erfährt: Früher war nicht alles besser! Ein Schluck frischen Wassers schmeckt dem Durstigen gar besser als eine süsse Traube. So erweist sich Gott für sie als heilig – und des Gottvertrauens als würdig.

Als menschliche Antwort auf ein solches Wunder mag eine alte Liedzeile passen (RG 681): «Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut.» Nicht einmal mitten in der Wüste.

 

 

In der Passionszeit 2024 hören wir in der kik Kinderkirche Wundergeschichten, die Mose und dem Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten widerfahren sind. Wir laden Sie herzlich ein zum Gottesdienst vom 24. März um elf Uhr in der Neumattkirche.